Can you flip it? Yes you can.
- Yves Ryser
- 27. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Warum die meisten Firmen ihre Organigramme falsch zeichnen.
Stell Dir ein typisches Organigramm vor. Ganz oben thront der CEO, darunter die Geschäftsleitung, dann das mittlere Management, bis hinunter zu den Mitarbeitenden an der «Basis». So weit, so bekannt. Doch was wäre, wenn wir dieses Bild einfach umdrehen?Plötzlich steht der CEO ganz unten. Er oder sie trägt das gesamte Gewicht des Unternehmens – Verantwortung, Risiko, Druck. Und über ihm oder ihr entfaltet sich die Organisation wie eine Tragstruktur, die auf seiner oder ihrer Schulter ruht.
Genau darum geht es. Organigramme sind mehr als hübsche Schaubilder. Sie sind Spiegel unserer Unternehmenskultur und transportieren unbewusst Werte. Und vielleicht ist es an der Zeit, dieses Bild auf den Kopf zu stellen.
Organigramme als Spiegel der Unternehmenskultur
Der Organisationspsychologe Edgar Schein (2010) veranschaulicht Kultur als Eisbergmodell. Was wir sehen – Strukturen, Symbole, Prozesse – sind nur die sichtbaren Spitzen. Darunter liegen unsichtbare und mächtigere Annahmen und Werte. Ein Organigramm wirkt auf den ersten Blick neutral. In Wahrheit vermittelt es aber eine klare Botschaft. Oben ist wichtiger als unten. Die Geschäftsleitung ist hoch oben, die Mitarbeitenden unten in der Hierarchie.
Die Sprachforschung zeigt, wie tief dieses Bild in uns verankert ist. George Lakoff und Mark Johnson (1980) beschreiben in Metaphors We Live By, dass wir abstrakte Konzepte durch räumliche Metaphern begreifen: "nach oben arbeiten" klingt positiv, "absteigen" negativ. Kein Wunder also, dass Organigramme Macht und Wertigkeit implizit durch ihre Form reproduzieren. Doch diese Metapher hat einen Haken. Sie verzerrt die Realität der Verantwortung.
Warum oben nicht automatisch besser ist
Das Bild der Pyramide suggeriert: Wer oben steht, hat es geschafft. Mehr Status, mehr Einfluss, mehr Freiheit. Doch psychologisch betrachtet stimmt das nur bedingt.
Führung auf höchster Ebene bedeutet nicht Luxus, sondern Last. Der niederländische Psychoanalytiker Manfred Kets de Vries (2006) hat eindrücklich beschrieben, wie Führungskräfte unter enormem Stress leiden. Isolation, schlaflose Nächte, das ständige Gefühl "alles tragen zu müssen". Viele CEO’s sind Burnout-gefährdet, weil die Verantwortung exponentiell wächst, je weiter man in der Hierarchie nach oben klettert.
Anders gesagt: Das Leben an der Spitze ist weniger ein Aussichtsturm als vielmehr ein Hochseilakt. Je höher man steigt, desto dünner wird die Luft.
Hierarchie als Denkfalle
Warum halten wir trotzdem so hartnäckig am Top-down-Bild fest? Weil unser Gehirn Hierarchie liebt. Der Sozialpsychologe Fritz Heider (1958) zeigte mit seiner Attributionstheorie, wie wir Verhalten automatisch erklären und dabei Macht gerne oben verorten.
Hierarchien geben uns Orientierung und Sicherheit, doch sie haben auch eine Schattenseite. Sie machen uns blind für alternative Denkmodelle. Wir verwechseln Position mit Wert und Höhe mit Bedeutung. Ein klassisches Organigramm ist also nicht nur ein Abbild, sondern eine Denkfalle.
Flip it! – CEOs als Träger statt Herrscher
Hier setzt die Idee des umgedrehten Organigramms an. Robert Greenleaf (1977) prägte den Begriff Servant Leadership, dienende Führung. Statt über Mitarbeitenden zu thronen, verstehen sich Führungskräfte als Unterstützer, als jene, die Rahmenbedingungen schaffen und die Organisation tragen.
In diesem Bild steht ein CEO nicht über dem Unternehmen, sondern unter ihm. Er trägt Verantwortung für Gehälter, Strategien, Krisenmanagement, Reputation. Kurz gesagt für das Überleben der gesamten Organisation.
Plötzlich wirkt das Organigramm nicht mehr wie eine Pyramide, sondern wie eine auf der Spitze balancierende Skulptur. CEO’s sind also die ausbalancierende Spitze und zugleich das Fundament, auf dem andere bauen können.
Organigramme neu gedacht – Praxisbeispiele
Das ist keine romantische Theorie. Es gibt Unternehmen, die diese Logik bereits leben.
Liip (Schweiz): Digitale Agentur, seit Jahren holokratisch unterwegs. Selbstorganisierte Teams, Führung als Service, spürbar mehr Innovationskraft und Zufriedenheit.
Unic (Schweiz): Digitale Agentur, setzt auf holokratische Zusammenarbeit. Entscheidungen in Rollen und Kreisen statt in Linien, Coaching statt Kontrolle.
FREITAG (Schweiz): Taschenhersteller mit umgekrempelter Struktur. Holokratie als Treiber für Eigenverantwortung, Engagement und neue Ideen.
Buurtzorg (Niederlande): Eine Pflegeorganisation mit tausenden Mitarbeitenden, die in kleinen, selbstorganisierten Teams arbeiten. Management? Minimal. Die Führung versteht sich als Service-Einheit, die den Teams den Rücken freihält.
Otto Group (Deutschland): Auch traditionelle Konzerne wagen Schritte in Richtung mehr Selbstorganisation. Führungskräfte werden stärker als Coaches und Träger verstanden, nicht als Kontrolleure.
Frederic Laloux (2014) fasst diese Beispiele in Reinventing Organizations zusammen. Organisationen entwickeln sich demnach weiter, wenn sie Kontrolle abgeben und stattdessen Vertrauen, Verantwortung und Sinn stiften.
Dreh Dein Bild und nimm neu wahr
Ein Organigramm ist mehr als ein Organigramm. Es ist ein kulturelles Statement. Wer es von oben nach unten zeichnet, sendet eine klare Botschaft über Macht und Wertigkeit.
Doch die Realität sieht anders aus. Die Spitze trägt das Gewicht. Führung bedeutet nicht Privileg, sondern Belastung. Je ehrlicher wir dieses Bild zeichnen, desto klarer wird, CEO’s stehen nicht oben, sondern unten und halten die Organisation zusammen.
Also: Nimm Dein Organigramm. Dreh es um. Schau, was das mit Deiner Wahrnehmung macht. Und frag Dich: Welche Botschaft willst Du mit Deinem Bild von Organisation wirklich senden?
Quellen
Schein, E. H., & Schein, P. A. (2017). Organizational culture and leadership (5th ed.). John Wiley & Sons.
Lakoff, G., & Johnson, M. (1980). Metaphors we live by. University of Chicago Press.
Kets de Vries, M. F. R. (2006). The leader on the couch: A clinical approach to changing people and organizations. Wiley.
Heider, F. (1958). The psychology of interpersonal relations. Psychology Press.
Greenleaf, R. K. (1977). Servant leadership: A journey into the nature of legitimate power and greatness. Paulist Press.
Laloux, F. (2014). Reinventing organizations: A guide to creating organizations inspired by the next stage of human consciousness. Nelson Parker.



